Manche Filme erzählen keine Geschichten – sie bewahren Leben. Die Kinder von Golzow wurde zu einem einzigartigen Archiv deutscher Alltagsgeschichte, das zeigt, wie politische Umbrüche Biografien formen und über Jahrzehnte nachhallen.
Es gibt Filmprojekte, die über ihre ästhetische oder dokumentarische Qualität hinaus zu einem Archiv kollektiver Erfahrung werden. Die Kinder von Golzow gehört in diese seltene Kategorie. Was 1961 als kleiner DEFA-Film über den ersten Schultag einer Landklasse begann, verwandelte sich über Jahrzehnte hinweg in eine Chronik des 20. Jahrhunderts. Winfried und Barbara Junge begleiteten die Kinder aus dem Oderbruch, später deren Familien, und damit zugleich die DDR – ihren Alltag, ihre Hoffnungen, ihre Brüche.
Die Stärke dieses Projekts liegt nicht in der grossen Geste, sondern im geduldigen Blick. Es sind keine Helden, die hier auftreten, sondern Bauernkinder, künftige Mechaniker, Lehrerinnen, Arbeitslose. Die Kamera beobachtet, wie ihre Biografien sich entfalten – manchmal in Übereinstimmung mit den Versprechen des sozialistischen Staates, oft im Widerstand oder in stiller Enttäuschung. Die Filme zeigen, wie politische Systeme in den intimsten Raum des Lebens eindringen, aber auch, wie sich einzelne Existenzen den offiziellen Mustern entziehen.
Nach 1989 wird die Langzeitbeobachtung zu einem Seismografen des Umbruchs. Aus sicheren, wenn auch engen Lebenswegen werden offene, aber unsichere Horizonte. Das Scheitern von Betrieben, das Abwandern der Jugend, der Bruch vertrauter Lebensformen – all dies schreibt sich in die Gesichter der Golzower ein. Man sieht nicht nur, wie ein Staat zerfällt, sondern wie dieser Zerfall in den Biografien fortwirkt.
In dieser beharrlichen Nähe liegt die kulturhistorische Bedeutung der Filme. Sie sind mehr als eine Serie von Dokumentarfilmen: Sie sind ein Gedächtnisort, ein kollektives Tagebuch über vier Jahrzehnte deutscher Geschichte. International findet sich Vergleichbares allenfalls in Michael Apteds britischer Up Series, doch Die Kinder von Golzow ist einzigartig durch den historischen Kontext.
So bewahrt die Golzow-Chronik nicht nur Bilder von Kindern, die längst alt geworden sind. Sie hebt die Erfahrung einer Epoche auf, in der Biografien radikal von politischen Umbrüchen gezeichnet wurden – und zeigt zugleich, dass selbst im Griff der Geschichte das Individuum seine unverwechselbare Spur hinterlässt.
Gerade darin liegt ihre Aktualität. In einer Zeit, in der Lebensläufe wieder stärker von ökonomischen Krisen, technologischen Umbrüchen und geopolitischen Verwerfungen geprägt werden, wirkt Golzow wie ein Spiegel: Die Frage, wie viel Gestaltungsmacht wir über unsere Biografien tatsächlich besitzen, bleibt brennend. Vielleicht ist dies die bleibende Lehre der Filme – dass wir uns nur verstehen, wenn wir die historische Bewegung mitdenken, die uns trägt und zugleich begrenzt.
| Titel | Die Kinder von Golzow |
| Jahr | 1961 – 2007 |
| Buch und Regie | Winfried Junge (ab 1990 zusammen mit seiner Frau Barbara Junge) |
(Bild: absolut MEDIEN)