Zwei Figuren, zwei Rollen – und eine Resonanz, die Jahrzehnte wirkte. Zwischen Springer und Zehrer entsteht eine Konstellation, in der Theologie der Tat und Unternehmergeist ineinandergreifen und die politische Publizistik der frühen Bundesrepublik nachhaltig formen.
Sommer 1944, Sylt: In einer Zeit, in der Deutschland im Krieg versinkt, treffen sich zwei Männer am Rand der Welt – oder genauer: am Rand des Watts. Der eine ist Axel Springer, 32 Jahre alt, gelernter Journalist und Verleger in spe. Der andere, Hans Zehrer, einst schillernder Kopf der Weimarer Wochenzeitschrift Die Tat, ein Intellektueller der «Konservativen Revolution», der sich mit dem NS-Regime überworfen und an die Nordsee zurückgezogen hat. Wie Michael Jürgs in seinem hintersinnigen Essay Mystiker auf Sylt erzählt, werden aus Spaziergängen im Schlick eine Art privates Seminar – mit Zehrer als Meister, Springer als eifrigem Schüler.
Zehrer gehörte in der Weimarer Republik zu den lautesten Kritikern der liberalen Demokratie. Ihn faszinierte die Idee einer «postliberalen» Ordnung, die Politik durch eine übergeordnete Einheit der Nation ersetze – Gedanken, die er später in die junge Bundesrepublik hinüberrettete. Auf Sylt formt er seinen neuen Schüler. Jürgs porträtiert Zehrer als eine Figur, die nicht nur politisch wirkt, sondern auch mythisch–esoterisch auftritt: mit Pathos, Symbolen, Zahlenzauber – ein Priester des Sinns, den Springer bewundert. Dass den jungen Verleger vor allem diese «mythische Esoterik» fesselte, belegen selbst konservative Biografen.
Zeitzeugen berichten von langen Wattspaziergängen, bei denen die beiden über Geschichte, Schicksal und Deutschlands Zukunft sprechen. Zwischen ihnen entsteht eine Anziehung, die ein Leben lang hält – trotz zahlreicher Reibungen. Der eine sucht das grosse Ganze, der andere gliedert die Welt in Spalten. Was sie verbindet, ist ein Gefühl von Sendung: der Glaube, dass Worte Wirklichkeit schaffen.
Nach dem Krieg kehrt Zehrer in die Presse zurück. 1946 sitzt er für kurze Zeit auf dem Chefredakteursstuhl der von den Briten gegründeten Welt, weicht jedoch nach Protesten. Ab 1948 leitet er das Hamburger Sonntagsblatt. 1953 übernimmt Axel Springer schliesslich die Welt und holt Zehrer dauerhaft an die Spitze des Blatts. Aus der früheren geistigen Nähe wird nun eine publizistische Allianz. Zehrer wird einer der engsten Vertrauten Springers und bleibt bis in die sechziger Jahre hinein Chefredakteur – als Lehrerfigur, Mentor und gelegentliches Gewissen.
Aus der Sylter Lehrzeit entsteht im weiteren Verlauf eine Mission, die Springers Häuser fortan prägt: kompromisslose Westbindung, entschiedener Antikommunismus, Solidarität mit Israel – und das grosse Ziel der Wiedervereinigung. Das erscheint weniger als strategische Programmatik denn als Glaubenssystem. Der Essay zeichnet diese Wandlung in liebevoll giftigen Miniaturen, manchmal komisch, stets präzise. Seine Stärke liegt im Blick für das Theatralische dieser Beziehung: zwei Männer, die sich selbst als Figuren einer Geschichte begreifen, in der Moral und Medien ineinandergreifen.
Wie sehr Zehrer Springers aussenpolitische Visionen befeuerte, zeigt exemplarisch die Moskau-Reise von 1958, bei der Springer – begleitet von Zehrer – in geradezu fantastischer Selbstüberschätzung einen eigenen Wiedervereinigungsplan vorlegt. Ein kurioses Kapitel deutsch-deutscher Nachkriegspolitik, halb Mission, halb Mystifikation: der Verleger als Diplomat, der Journalist als spiritueller Beistand. Doch Jürgs erzählt das ohne Spott. Er versteht, dass diese Mischung aus Glaube und Geschäft, aus Idealismus und Machtinstinkt, den Springer-Konzern prägte – und vielleicht auch seine Dauer.
So entfaltet der Essay eine präzise Doppelstudie. Zehrer, der sich einst von der politischen Bühne zurückgezogen hatte, findet durch Springer eine neue Öffentlichkeit. Springer wiederum entdeckt im älteren Freund eine moralische Instanz, die seine rastlose Energie in höhere Bahnen lenken soll. Der eine bringt die Aura, der andere die Apparate. Daraus entsteht ein eigenartiger Resonanzraum: Theologie der Tat trifft Unternehmergeist. Diese Verbindung ist nicht nur biografisch interessant, sondern symptomatisch für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, die ihre Deutungseliten zwischen Kirche, Verlagshaus und Rundfunkstudio suchte.
Je weiter der Text voranschreitet, desto stärker verschieben sich die Perspektiven: Aus der privaten Lehrer-Schüler-Beziehung wird ein kulturgeschichtliches Tableau. Der Essay erzählt mit spürbarem Vergnügen an der Reibung, die entsteht, wenn metaphysische Sehnsucht auf journalistischen Betrieb trifft. Springers Sendungsbewusstsein erscheint dabei als säkulare Religion, ein Glaubenssystem, das in Redaktionskonferenzen ebenso aufblitzte wie in politischen Leitartikeln. Die Vorstellung, dass Journalismus eine Form von Schicksal sei, macht aus der Redaktion eine Art Kanzel.
Dass all dies mit so viel Witz und Präzision geschildert wird, liegt am feinen Sinn des Autors für Charaktere. Er karikiert nicht, er vergrössert. Er betrachtet Zehrer und Springer wie zwei Schauspieler in einem Drama, das sie selbst geschrieben haben. Beide glauben an Öffentlichkeit, beide glauben an Wirkung – und beide glauben an sich. Ihr Verhältnis schwankt zwischen Bewunderung und Rivalität, Nähe und Überdruss. Gerade hierin liegt seine Modernität: Der Intellektuelle braucht den Unternehmer, um gehört zu werden; der Unternehmer braucht den Intellektuellen, um sich zu legitimieren.
Am Ende bleibt ein Rest von Zauber. Vielleicht liegt es an der Bühne Sylt, vielleicht an der Kunst des Erzählers: Man glaubt dem Text, dass an der Quelle dieses Verlagserfolgs nicht nur Kennziffern standen, sondern auch Sehnsucht. Die Sehnsucht, aus den Irrnissen deutscher Geschichte eine klare Gegenwart zu formen; die Sehnsucht, dass Journalismus mehr sei als Geschäft; die Sehnsucht, dass Worte die Welt berühren. Hans Zehrer und Axel Springer begegnen einander als zwei Spieler unterschiedlicher Disziplinen, die eine Weile lang – lange genug – dieselbe Taktik wählen.
«Mystiker auf Sylt» ist das Porträt dieser Übereinstimmung – und zugleich eine kleine Studie über die religiöse Energie, die der jungen Bundesrepublik innewohnte. Ein witziges, lebendiges und lesenswertes Stück Medienarchäologie – und gerade deshalb ein Vergnügen, das weit über seine Figuren hinausweist.
Jürgs, Michael: «Mystiker auf Sylt. Axel Springer und Hans Zehrer». In: Lutz Hachmeister / Friedemann Siering (Hg.): Die Herren Journalisten. Die Elite der deutschen Presse nach 1945. München: C.H. Beck, 2002, S. 196–212.
(Bild: Mark-André Schulz-Niemax / Unsplash)