Frankensteins Erben: Von der Dampfmaschine des Geistes

Hochhausfassade mit vielen kleinen Fensterquadraten, teilweise reflektierend in warmen Gold- und Bronzetönen, vom unteren Bildrand her aufsteigender dichter Nebel oder Dampf, der das Gebäude halb verdeckt; Stimmung düster-mystisch.

Technik wird selten zum Monster – ihre Einbettung schon. Von den Ludditen bis zur KI zeigt Shelleys Frankenstein, wie Fortschritt soziale Spaltungen vertieft, wenn Verantwortung fehlt und ökonomische Macht sich konzentriert.

Als Mary Shelley 1818 «Frankenstein» veröffentlichte, schrieb sie nicht nur ein Hauptwerk der Schauerliteratur, sondern auch einen Schlüsseltext der Moderne. Der Roman entstand in den frühen Jahrzehnten der industriellen Revolution – jener Epoche, in der Dampfmaschinen, Spinnmaschinen und eine Flut von Innovationen alte Lebenswelten erschütterten und die Menschen in Fabrikstädte drängten. Shelley verdichtete die Ambivalenz der Zeit: Der Mensch kann künstliches Leben erschaffen – doch was, wenn es sich gegen ihn wendet?

Es ist kein Zufall, dass Shelleys Roman wenige Jahre nach den Ludditen‑Aufständen erschien, als englische Arbeiter nachts Fabriken stürmten und Maschinen zerstörten. Nicht aus kurzsichtiger Technikphobie, wie später behauptet wurde, sondern aus ökonomischer Angst. Sie wussten: Fortschritt hiess zunächst nicht Befreiung, sondern Verlust und Verdrängung. Engels beschrieb diese Phase später als «Pause»: Produktivität und Gewinne stiegen, während die Löhne stagnierten. Die industrielle Revolution brachte nicht sofort Wohlstand für alle, sondern vertiefte soziale Spaltungen.

Heute beschwören Tech‑Visionäre die Künstliche Intelligenz (KI) als «Dampfmaschine des Geistes». Sie versprechen eine Revolution, grösser als jede bisherige. Doch Shelleys Parabel erinnert: Das Problem liegt weniger in der Maschine als in der Hybris ihrer Schöpfer. Frankenstein scheitert nicht, weil sein Geschöpf böse wäre, sondern weil er es verantwortungslos freisetzt, ihm Anerkennung verweigert und seine gesellschaftliche Einbindung missachtet.

Darin liegt die Lehre für die Gegenwart: KI wird nicht zum «Monster», weil sie uns übertrifft, sondern weil wir sie in eine Ökonomie einbetten, die Profite konzentriert und Risiken kollektiviert. Wenn es wieder Jahrzehnte dauert, bis die Vielen am Fortschritt teilhaben, werden die gesellschaftlichen Verwerfungen tiefer, als uns lieb sein kann.

Shelleys Roman zeigt: Technischer Fortschritt ist nie bloss Prometheus, der das Feuer bringt; er ist immer auch ein Drama von Verantwortung, Macht und Ausschluss. Genau darin berührt er den Nerv einer Vernunftkritik, die deutlich macht, wie Aufklärung, wenn sie sich auf instrumentelle Rationalität verengt, in Mythos zurückschlägt. Frankensteins Geschöpf ist ein solcher Mythos – ein Wesen, das der kalten Vernunft entspringt und ihr als Unkontrollierbares zurückkehrt.

Wer heute von der «Dampfmaschine des Geistes» schwärmt, sollte deshalb nicht nur Effizienzgewinne und neue Möglichkeiten feiern, sondern fragen: Welche Vernunft formt diese Maschine – und wessen Vernunft wird durch sie verdrängt?

(Bild: Zoltan Tasi / Unsplash)