Wie wurde aus sperriger Theorie einmal ein Lebensstil? Philipp Felsch erzählt in Der lange Sommer der Theorie von einer Epoche, in der schwierige Texte nicht nur gelesen, sondern gelebt wurden – in Seminarräumen, Hinterhöfen, Copyshops und Clubs. Sein Buch rekonstruiert jene Jahre, in denen ein dünnes Taschenbuch mehr Orientierung versprach als jede Vorlesung.
Theorie – selten hat ein Wort so sehr geglänzt. Es versprach Orientierung und Erschütterung zugleich, war Haltung, Distinktion, Mutprobe. Philipp Felsch folgt in Der lange Sommer der Theorie jener Epoche, in der schwierige Texte zu Handgepäck und Kampfausrüstung wurden. Sein Buch liest sich wie das Protokoll einer langen, flirrenden Saison: von den Seminarräumen der Sechziger über improvisierte Lektürezirkel und Copyshops bis in die Galerien und Clubs der Achtziger. Man blättert und hört beinahe das Knistern der dünnen Taschenbuchseiten.
Im Zentrum steht eine Berliner Schaltstelle: der Merve‑Verlag, jene legendäre Importmaschine für «wildes Denken». Anhand der Figuren, die dort Bücher machten und Bücher lebten, erzählt Felsch, wie Theorie Kreise zog – nicht nur durch Universitäten, sondern durch Kneipen, WGs, Ateliers. Er zeigt, wie sich französische Gegenwartsdenker – Foucault, Deleuze/Guattari, Lyotard – in der alten Bundesrepublik wie Brandbeschleuniger verbreiteten, weil ihre Texte mehr versprachen als neue Begriffe: eine Methode, die Welt zu spüren und zu verändern. Dass sein Zugriff mikrohistorisch bleibt, ist kein Mangel, sondern Programm. Felsch interessiert die Praxis des Lesens: Wer las, wo wurde gelesen, auf welche Weisen wurden Texte angeeignet?
Der grosse Coup des Buchs liegt im Ton. Felsch schreibt keine einschüchternde Ideengeschichte, sondern eine glänzend montierte Ideenreportage. Er skizziert Schauplätze statt Systeme, Situationen statt Summenformeln. Ein Abend im West‑Berliner Hinterhof veranschaulicht mehr als ein Abstract; eine nächtliche Diskussion in einer Bar erklärt besser als eine Fussnote, weshalb Theorie damals Verführungskraft hatte. Dieser journalistisch geschärfte Zugriff verleiht dem Stoff Tempo, ohne ihn zu trivialisieren. Man spürt die Hitze der Debatten, den Stolz der Eingeweihten, aber auch das leicht ironische Grinsen, das aufkommt, wenn man erkennt, wie sehr glamouröse Unverständlichkeit zum Stilideal werden konnte.
Ein wiederkehrendes Motiv ist die Demokratisierung der Lektüre. Taschenbücher, Raubdrucke, kleinteilige Heftreihen: Das Material war portable, erschwinglich, zirkulationsfreudig. So verlagerte sich Theorie aus der Vorlesung in den Alltag. In diesem Verschub liegt die Pointe: Theorie als Lebensform. Sie strukturierte Freundschaften und Feindschaften, bestimmte Wochenpläne und Nächte, prägte eine Ästhetik des Auftretens und Sprechens. Felsch fängt das mit detailverliebten Vignetten ein – nicht museal, sondern elektrisiert: das hektische Übersetzen, die improvisierten Vertriebswege, die Diskurs‑Migration von der Hörsaalbank auf die Tanzfläche.
Dabei spart das Buch die Ambivalenzen nicht aus. In den Achtzigern kippt die Revolte ins Ritual, das Lesebegehren in Pose. Theorie wird zur Signatur eines Milieus, das sich zwischen Kunstbetrieb und Politrest irgendwann in seinem eigenen Echo verstrickt. Felsch notiert diese Schwellung der Zeichen mit einer Freundlichkeit, die nicht blind macht: Die Begeisterung war echt, die Verhärtungen ebenfalls. Dass randständige Lektüren plötzlich ins Zentrum rücken konnten – inklusive irritierender Grenzgänge und modischer Überschneidungen –, gehört zur Wahrheit dieser Jahre. Das Buch hält solche Reibungen aus, ohne sie breitwalzend zu skandalisieren.
Wer systematische Einführungshandbücher erwartet, wird indes bewusst unterfordert. Felsch gliedert entlang von Jahreszahlen und Episoden, nicht entlang von Ismen. Er erklärt Begriffe knapp, verweist auf Linien, setzt aber vor allem auf Szene‑Schärfe und Erzählenergie. Darin liegen eine Stärke und eine Grenze. Stärke, weil die Atmosphäre jener Zeit – Ernst, Exzess, Stilwillen – wirklich leibhaftig wird. Grenze, weil manche Leserinnen und Leser mehr argumentative Ausleuchtung einzelner Theoriestränge vermissen könnten. Doch der Text versteht sich als Einladung: Wer nach der Lektüre Lust hat, zu Foucault, Deleuze/Guattari & Co. zu greifen, hat ihn richtig gelesen.
Besonders gelungen ist, wie Felsch die Medien‑ und Materialgeschichte des Denkens mitdenkt. Theorie erscheint hier nicht als reine Idee, sondern als Ensemble aus Formaten, Vertriebswegen, Lesepraktiken. Der Katalogtitel, die Typografie, der Preis – all das wird Teil des Arguments. Und plötzlich lassen sich auch heutige Fragen neu stellen: Welche Rolle spielen Plattformen, Feeds, Newsletter für die Produktion intellektueller Öffentlichkeit? Was hiesse es, Theorie wieder als geteiltes Ritual zu begreifen, jenseits des Dauerscrollens? Felsch schreibt kein Gegenwartsbuch, aber seine Szenen machen eine Gegenwartsfrage sichtbar.
Natürlich lassen sich Leerstellen benennen. Der Blick aus dem Merve‑Kosmos verengt bisweilen den Horizont; die akademischen Verschiebungen der 1990er Jahre bleiben eher Kulisse als Kapitel; Stimmen, die ausserhalb des Berliner Resonanzraums wirkten, tauchen seltener auf. Und man wünschte sich an manchen Stellen, die Spur feministischer Theorie würde stärker in den Hauptgang gemischt und nicht nur am Rand glänzen. Doch das sind produktive Reibungen. Sie fordern zur Ergänzung heraus, nicht zur Abwertung. Die Stärke des Buchs besteht eben darin, einen resonanzfähigen Kern freizulegen, an den sich weitere Geschichten anschliessen lassen.
Was macht Der lange Sommer der Theorie heute lesenswert? Erstens: Es liefert die lebendigste Milieustudie, die es zu dieser spezifischen deutsch‑westlichen Theoriebegeisterung gibt – nah an den Akteuren, reich an Anekdoten, ohne die Distanz zu verlieren. Zweitens: Es erklärt, warum schwierige Texte eine derart konkrete soziale Energie entfalten konnten. Drittens: Es zeigt, wie Theorie als kulturelle Praxis funktioniert – mit all ihren Riten, Fetischen und Irrtümern. Das alles ist elegant komponiert, mit einem sicheren Sinn für Rhythmus und Pointe.
Für wen ist das Buch? Für alle, die wissen wollen, warum ein dünnes Heft im Manteltaschenformat einmal ganze Lebensläufe umlenken konnte. Für Leserinnen und Leser, die Lust haben, Theorie nicht nur zu verstehen, sondern ihren Aggregatzustand zu fühlen. Für Neugierige, die eine Tür in die alte Bundesrepublik als Leseland suchen – und für Skeptiker, die prüfen möchten, ob das Feuer von gestern in der Gegenwart noch wärmt. Wer nach einem kanonischen Überblick verlangt, wird flankierende Einführungen brauchen; wer hingegen sehen will, wie Denken populär, populär‑elitär, ja glamourös sein konnte, bekommt eine exemplarische Geschichte.
Am Ende bleibt ein doppelter Impuls: Lächeln über die stilistische Tollkühnheit der Szene – und Respekt vor dem Ernst, mit dem damals um Begriffe gerungen wurde. Felsch gelingt es, diesen Ernst ohne Nostalgie zu zeigen. Der lange Sommer der Theorie erinnert daran, dass Lesen eine soziale Technik ist. Und es legt nahe, dass ausgerechnet in Zeiten zersplitterter Aufmerksamkeit die konzentrierte, geteilte Lektüre wieder politisch werden könnte. Das ist die stille Provokation dieses klugen, leichten, hintersinnigen Buchs: Es erzählt von einer Revolte – und weckt, ganz ohne Parole, Lust auf die nächste.
Felsch, Philipp. Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990. München: C.H. Beck, 2015. ISBN 978-3-406-66853-1.
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