Ende der Utopie?

Wer bewahrt die Welt vor […] den Intellektuellen, die ihre Theorien entwerfen, das Bestehende verlästern, die Massen mit Utopien verzaubern und den Mächtigen die moralischen Hemmungen wegeskamotieren – ohne die Kosten und Kehrseiten zu bedenken, ohne die Kosten am eigenen Leib tragen zu wollen? Sie konnten sich nicht genug tun, von links und von rechts ihre antibürgerliche Romantik zu kultivieren, sie priesen die totale Gesellschaft oder den totalen Staat – und schreckten […] mit erstaunten Kinderaugen naiv auf, wenn der entfesselte Felsblock der Macht nicht nur anderen, nicht nur den ‹Bürgern›, sondern auch ihnen selbst auf den Kopf fiel und ihr Leben zerquetschte.

Helmut Gollwitzer (1951)

In einer Zeit, in der das demokratische Gemeinwesen bei einer wachsenden Zahl von Menschen an Ansehen und Legitimation zu verlieren scheint, haben antibürgerliche Romantik und radikale Entwürfe wieder Konjunktur. Genug mit Alternativlosigkeit und Sachzwängen, hinfort mit dem Bestehenden, das seinen Glanz und seine Kraft eingebüsst hat. Lasst uns eine neue Welt schaffen, wie wir sie noch nicht gesehen haben.

Vielerorts ist der ideologische Sturm auf die bestehenden Verhältnisse in vollem Gange. Noch widerstehen demokratische Strukturen und Zivilgesellschaft Brandstiftern wie Trump, Salvini oder Orban, aber der antidemokratische Furor gewinnt nicht nur in den einschlägigen Echokammern der sozialen Netzwerke stetig an Kraft. Parlamentarismus, politischer Kompromiss und Anstand? Alles nur Hindernisse auf dem Weg zu einer beherzten Lösung der «wahren Probleme».

In grossen Utopien verbergen sich oft Machtträume und die unreflektierte Annahme, man werde selbstverständlich zu den Mächtigen und nicht zu den Opfern der herbeigesehnten Zukunft gehören. Die als schwach und matt empfundene bürgerlich-demokratische Gesellschaft hinter sich lassen und als Avantgarde der Geschichte radikal, mutig und entschlossen an einer neuen Gesellschaft bauen? Das klingt nicht nur in den Ohren von Menschen, die sich von einer unüberschaubar gewordenen Gegenwart überfordert fühlen, verlockend.

Die Mahnung Helmut Gollwitzers, der sich nach Krieg und Kriegsgefangenschaft gerade nicht nach grossen Utopien, sondern nach dem kleinen Glück eines Lebens in Frieden und Freiheit sehnte, ist heute aktueller denn je. Überindividuelle Grossutopien einer vermeintlich besseren Gesellschaft klingen verführerisch, doch in der Praxis münden sie fast immer in Zerstörung von Leben, Freiheit und Glück, was die letzten hundert Jahre mit unzähligen Beispielen belegen.

Hat die Utopie also ausgedient? Ernst Bloch würde vehement widersprechen. Eine der wertvollsten Eigenschaften des Menschen sei seine Unzufriedenheit, aus der sein Streben nach Verbesserung, sein Wille nach Verwirklichung einer Welt, die noch nicht ist, aber in der Mangelerfahrung bereits Konturen annimmt, resultiere. «Denken heisst überschreiten» lautet einer der bekannten Sätze von Bloch, wobei sein mahnender Nachsatz gerne unterschlagen wird: «Nur freilich fand dieses Überschreiten bis heute nicht sein Denken.»

(Bild: Ross Savchyn / Unsplash)