Die Rückkehr des Hauptwiderspruchs

So mancher Genosse im Festsaal der Universität zu Frankfurt weiss nicht recht, wie ihm geschieht, als im September 1968 am zweiten Tag der 23. Delegiertenkonferenz des SDS die Berliner Filmemacherin Helke Sander ans Mikrofon tritt und über überkommene Geschlechterrollen und ihre spezifische Unterdrückungserfahrung als Frau spricht. Der Klassenkampf müsse, so eine ihrer Forderungen, nicht zuletzt auch in die Ehe getragen werden. Als die Männer nach Sanders flammender Rede gleich zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung übergehen wollen, fliegen sechs Tomaten, eine davon trifft SDS-Cheftheoretiker Hans-Jürgen Krahl am linken Schlüsselbein. Dieser symbolträchtige Tomatenwurf, ausgeführt von Sigrid Rüger, läutet die zweite Welle der Frauenbewegung ein, die sich nicht länger mit dem Versprechen, der Nebenwiderspruch der Frauenunterdrückung werde sich mit der Beseitigung des Hauptwiderspruchs von Kapital und Arbeit irgendwann von selbst lösen, abspeisen lassen will.

Knapp zehn Jahre später führte das Combahee River Collective in Boston in einem programmatischen Statement den heute kontrovers diskutierten Begriff der Identitätspolitik ein. Es erkannte sich in einer linken Politik, die primär die Lebensrealität des männlichen Industriearbeiters im Auge hatte, nicht wieder, da sie weder ihrer Lebenssituation noch den alltäglichen Diskriminierungserfahrungen entsprach, die seine Mitgliederinnen als lesbische, schwarze Frauen machten: „Our politics evolve from a healthy love for ourselves, our sisters and our community which allows us to continue our struggle and work. This focusing upon our own oppression is embodied in the concept of identity politics. We believe that the most profound and potentially most radical politics come directly out of our own identity, as opposed to working to end somebody else’s oppression.“

Mit der Abkehr vom Proletariat als zentraler Kategorie der Linken machten immer mehr gesellschaftliche Gruppen ihre ganz eigene Diskriminierungserfahrung zum Thema ihres politischen Engagements. Sie wollten sich nicht länger einem vermeintlichen Hauptwiderspruch und einem linken Diskurs unterordnen, in dem sie als Gruppe mit ihren partikularen Interessen nicht vorkamen oder im besten Falle Nebensache waren.

Und doch haben all diese identitätspolitischen Gruppen ihren direkten oder indirekten Ursprung in der 68er-Bewegung. Die zweite Welle des Feminismus, Schwulenbewegung, Transgender-Bewegung, Black Lives Matter: sie alle wären ohne Achtundsechzig nicht denkbar und sind logische Entwicklung einer gesellschaftskritischen Haltung, die mit mikroskopischem Blick in immer kleinere Welten repressiver Mechanismen vorstösst und diese offenlegt.

Wenn also rechte Intellektuelle wie beispielsweise Mark Lilla ganz plötzlich die Tugenden des Klassenkampfes für sich entdecken und den Linken vorwerfen, sie hätten sich in den letzten Jahren zu wenig um die Frage sozialer Ungleichheit und zu sehr um die Interessen immer spezieller werdender Minderheiten gekümmert, zielt dieser Vorwurf direkt auf die gesamten gesellschaftspolitischen und kulturellen Errungenschaften der letzten fünfzig Jahre und konstruiert einen Gegensatz zwischen sozialer Frage und Diskussionen um Rassismus, Sexismus und LGBT-Rechten, den es so nicht gibt.

Eines ist allerdings nicht von der Hand zu weisen: Die Neue Rechte rezykliert seit einigen Jahren ehemals linke Parolen aus der Zeit des Klassenkampfes, reichert sie mit nationalistischen und fremdenfeindlichen Elementen an und feiert damit Erfolge an der Wahlurne, während die traditionellen Parteien an Wählerstimmen verlieren.

Diese Entwicklung hat indes nicht das Geringste mit der vielgescholtenen Transgender-Toilette zu tun. Sie ist vielmehr das Resultat eines Verrats der Sozialdemokratie an ihren Idealen. Mit der Deregulierung des Arbeitsmarktes, der Privatisierung staatlicher Unternehmen und einer Vielzahl weiterer makroökonomischer Massnahmen, wie sie von Tony Blairs „New Labour“ und Gerhard Schröders „Neuer Mitte“, um zwei besonders prägnante Beispiele zu nennen, ab Ende der 1990er-Jahren mit Verve umgesetzt wurden, erfolgte ausgerechnet unter sozialdemokratischer Ägide eine radikale Abkehr vom Versprechen auf soziale Sicherheit für alle. Das hat die Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert.

In einem so erschütterten Gemeinwesen ergibt sich unweigerlich ein explosiver symbolischer Kontrast zwischen der prekären Lebenssituation grosser Bevölkerungsschichten und scheinbar abgehobenen Themen wie Mikroaggressionen, Safe Spaces oder Cultural Appropriation, was eine willkommene Steilvorlage für rechte Propagandisten darstellt. Daher ist es dringend notwendig, auch wieder über den Hauptwiderspruch zu reden und sich politisch damit auseinanderzusetzen, will man verhindern, dass die Polarisierung innerhalb unserer Gesellschaften weiter zunimmt.

(Bild: Jordan McDonald / Unsplash)